»Man muss dafür brennen, anderen zu helfen«

14. Januar 2019 – Interview: Niclas Müller
Seit 1998 hilft der Dienst­leister Rehacare Menschen nach schweren Unfällen wieder zurück ins Leben. Eine Ärztin, ein Jurist und ein Top-Manager der Allianz erklären, warum es nicht nur ehren­wert ist, Gutes zu tun – sondern auch wirt­schaft­lich sinn­voll
»Da steckt viel Leidenschaft drin«, sagt Jochen Haug (rechts) über die Arbeit von Birgit Bals und Stefan Lauer. Foto: Sebastian Arlt

Frau Bals, Herr Haug, Herr Lauer, kann es unter­nehmer­isch Sinn ergeben, in Mensch­lich­keit zu investieren?

Jochen Haug: Ja, natürlich. Denn als Versicherer basiert unser Geschäftsmodell darauf, dass wir für unsere Kunden da sind, wenn sie uns brauchen. Rehacare ist in extremen Situationen gefragt, die man ­niemandem wünscht und in denen man am meisten Hilfe braucht. Da geht es nicht um eine Delle im Auto, sondern häufig um Menschen, die gerade so überlebt haben, die im Alltag beeinträchtigt sind, die vielleicht ihren Beruf nie mehr ausüben können. Da haben wir als großes, erfolgreiches Unternehmen eine gesellschaftliche Verantwortung. Die wiegt schwerer als die reine Gewinnerzielungsabsicht. Bei Rehacare haben wir allerdings die für mich als Vorstand ideale Situation, dass es unter dem Strich auch noch profitabel für die Allianz ist, was Rehacare leistet.

Wie kann sich die teils sehr teure Unter­stützung rechnen?

Stefan Lauer: Als ich vor 20 Jahren bei ­Rehacare begann und wir Personal aus dem sozialen Bereich gesucht haben, war das eine häufige Frage: »Das rechnet sich, was ihr da macht? Und da soll ich als Sozialpädagoge mitwirken?« Mittlerweile ist es akzeptiert und weithin bekannt, dass sich ein gut gemanagtes Reha-Programm auszahlt. Es ist eine echte Win-win-Situation. Oder sogar eine Win-win-win-­Situation: Der Klient leidet weniger und wird – im besten Fall – wieder gesund. Die Allianz spart Kosten, weil auf lange Sicht weniger finanzielle Ansprüche zu regulieren sind. Und auch die Allgemeinheit gewinnt etwas, wenn ein Patient wieder arbeiten und Sozialversicherungsbeiträge zahlen kann.

Herr Lauer, Sie sind Geschäfts­führer und ausgebildeter Jurist. Wie Sie sagten, arbeiten ­zudem Sozial­päda­gogen bei Ihnen. Sie, Frau Bals, sind Ärztin. Welche Berufs­bilder gibt es noch?

Birgit Bals: Viele. Um den Job gut zu machen, muss man alle, die in einem Rehabilitationsprozess beteiligt sein können, im eigenen Team haben. Nur dann hat man das Know-how, um gezielt einzugreifen. Bei uns arbeiten Menschen aus der Erwachsenenbildung, Krankenpfleger, Pflegewissenschaftler und -manager, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Sportwissenschaftler und -therapeuten, Architekten, Bauingenieure …

Architekten?

Lauer: Ja, wenn jemand dauerhaft auf einen Rollstuhl angewiesen ist, müssen wir ­dafür sorgen, sein Zuhause barrierefrei zu gestalten oder sein Auto anzupassen. Große Umbauten an Wohnungen oder Häusern haben wir rund 15-mal pro Jahr.

Bals: Es gibt aber auch kleinere Fälle: etwa eine alte Dame, die nach einer Schienbeinkopffraktur aus dem Krankenhaus entlassen wird und zu Hause nicht zurechtkommt, weil sie nicht mehr in die ­Badewanne reinkommt. So etwas lösen wir auch ohne Architekten, über Hilfsmittel. Da kommt ein Badewannen-Lifter rein …

Lauer: … dazu eine Türverbreiterung auf 90 Zentimeter, vielleicht ein Lift für die Treppe – das ist alles gar nicht so aufwendig.

Bals: Aber die Lebensqualität der Frau steigt um 1000 Prozent, und ihre Heilungschancen sind besser, weil sie sich nicht verrenken und irgendwie in die Badewanne hieven muss …

Das alles unternimmt Rehacare, obwohl die Patientin keine Allianz Kundin ist?

Haug: Ja, bei der Allianz ist es unser Selbstverständnis, dass wir allen, für die wir etwas leisten, wie einem Kunden gegenübertreten. Auch ein Geschädigter hat Anspruch auf unsere Professionalität und den bestmöglichen Service. Ich möchte nicht, dass wir jemanden anders behandeln, nur weil er kein Allianz Kunde im engeren Sinn ist.

Lauer: Man darf nicht vergessen, dass wir manchmal in schwierige Situationen geraten. Da ist jemand morgens aus dem Haus gegangen und abends nicht gesund wiedergekommen. Schuld war womöglich ein Allianz Haftpflichtversicherter. Das läuft nicht immer spannungsfrei ab, weil Rehacare zwar unabhängig ist, aber im Auftrag der Allianz handelt. Da brauchen ­unsere Mitarbeiter spezielles Handwerkszeug: Wie führe ich ein Gespräch nach so einem Unfall? Wo ist Empathie wichtig? Wie ziehe ich mich aber auch wieder raus?

Gelingt das gut?

Lauer: Wir haben eine Zufriedenheitsquote von 99,6 Prozent.

Haug: Als Allianz Gruppe können wir stolz sein, dass wir so etwas wie Rehacare haben.

Frau Bals, Herr Lauer, Sie sind beide seit der Gründung dabei. Erinnern Sie sich noch an Fall Nummer eins?

Bals: Na klar. Das war Katharina, ein junges Mädchen mit einer Hirnverletzung.

Lauer: Anfangs mussten wir manchmal etwas improvisieren. Wenn zum Beispiel etwas in Hamburg passierte, haben wir uns in München ins Auto gesetzt und sind hingefahren. Heute sind wir mit den freien Mitarbeitern etwa 100 Kollegen an 20 Standorten. Insgesamt haben wir inzwischen rund 12.000 Klienten geholfen.

»Den Körper kann ich nicht rebooten oder ein Update aufspielen«
Jochen Haug, Schaden Vorstand der Allianz

Am Anfang ging es offen­bar noch zu wie bei einem Start-up …

Haug: Stimmt. Auch die Mentalität war und ist vergleichbar: Bei Frau Bals und Herrn Lauer habe ich den Eindruck, dass Rehacare kein Job, sondern eine Lebensaufgabe ist. Da steckt bei ­vielen Mitarbeitern viel Leidenschaft drin, Gutes zu tun, ­Menschen zu helfen und Schicksale positiv zu beeinflussen.

Lauer: Im sozialen Bereich zu arbeiten und wirtschaftlich erfolgreich zu sein – das ist der Spannungsbogen, der uns gelingen muss. Nach wie vor macht mir das sehr viel Spaß. Man muss ­dafür brennen, anderen zu helfen – sonst braucht man erst gar nicht anzufangen.

Haug: Die richtige Einstellung allein reicht aber nur selten, um ein Start-up erfolgreich zu machen. Rehacare hatte noch ­etwas anderes Entscheidendes: eine Idee in einem Bereich, wo andere noch keine hatten. Heute redet jeder Versicherer über proaktives Schadenmanagement. Vor 20 Jahren war das Neuland, Rehacare war hier ein Vorreiter.

Wie funktioniert diese Idee in der Praxis?

Bals: Ich kann ­Ihnen ein Beispiel geben: Es ging um einen Jugendlichen, Sebastian, gerade 17 Jahre alt, der bei einem Moped-Unfall verletzt wurde. Bei dem stand es Spitz auf Knopf: Er hatte komplizierte Frakturen und Wundheilungsstörungen. Schließ­lich sollte sein Bein amputiert werden, wodurch er für immer Rollstuhlfahrer geworden wäre. Vor diesem gravierenden Eingriff sind wir in die Klinik, haben uns das angeguckt und gesagt: »Nein, nicht amputieren. Wir bringen ihn in eine Spezialklinik.« Dort hat man den Defekt im Oberschenkel – er hatte eine 20 Zentimeter lange ­Lücke im Knochen – mit einem speziellen Therapieverfahren – behandelt. Und es hat funktioniert! Der Knochen ist tatsächlich zusammengewachsen.

Haug: Nach anderthalb Jahre in der Klinik … Das war natürlich zunächst einmal deutlich teurer als eine Amputation. Aber wir lassen einen jungen Mann, der noch 60 oder mehr Jahre vor sich hat, nicht hängen. Das mussten wir einfach versuchen.

Bals: Wir begleiteten Sebastian bis in die Ausbildung. Wenn ich mich richtig erinnere, wurde er Bauzeichner. Ein anderes Beispiel ist der Fall eines Anfang 30-jährigen Mannes, der eine Hirnverletzung erlitt, aus der sehr schwere Verhaltensstörungen resultierten. Unter anderem hatte er aggressive Ausbrüche und stand kurz davor, lebenslang in der geschlossenen Psychiatrie zu verschwinden. Eine Kollegin von mir, die sehr hartnäckig ist, fand dann aber eine hoch spezialisierte Therapeutin, die mit dem Patienten an ­diesen Verhaltensstörungen arbeiten konnte. Intensiv an eine Institution angebunden, auf Kosten der Allianz, mehr als zwei Jahre – das hätte kein gesetzlicher Träger finanziert. Am Ende konnte er zurück zu seiner Familie mit den beiden Kindern und sogar ins Berufsleben reintegriert werden. Das hätte auch ich anfangs nie für möglich gehalten.

Langfristig rechnen sich solche Fälle dann?

Haug: Das ist richtig, das sind diese Win-win-Situationen.

Lauer: Wenn es nur in einem Fall gelingt, jemanden beruflich zu reintegrieren, würden sich neun weitere Fälle rechnen. Der Hebel ist sehr groß.

Warum unterhält nicht jeder Versicherer einen Dienst­leister wie Rehacare?

Haug: Wir sind sicher nicht das einzige Unternehmen, das so etwas leistet, üblich ist es jedoch bei Weitem nicht. Die Summe X als Schadensersatz zu zahlen, ist deutlich einfacher. Reha-Maßnahmen rechnen sich erst ab einer bestimmten Fallzahl und selten sofort, sondern eher mittel- und langfristig. Im Einzelfall können sie unrentabel sein. Unsere Größe hilft uns hier natürlich.

Blicken wir 20 Jahre in die Zukunft. Was würden Sie im Jahr 2038, also zum 40-jährigen Jubiläum, gern über Rehacare lesen?

Lauer: Ich hoffe, dass die sogenannte »Naturalrestitution« dann noch an Bedeutung gewonnen hat. Dass also mit allen Mitteln versucht wird, den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen, anstatt Schäden finanziell ausgleichen zu wollen.

Wie wird sich die Digitali­sierung auf Rehacare aus­wirken?

Lauer: Prothesen stellt man schon heute per 3D-Druck her, wir haben einen Calculator entwickelt, der Heilungswahrscheinlichkeiten, Wiedereingliederungschancen und Kosten berechnen kann. Neue Techniken und Therapieverfahren werden auch den Reha-Bereich stark verändern.

Bals: Der Fortschritt wird unsere Arbeit enorm erleichtern. Trotzdem bleiben im Reha-Management die Menschen mit ihrem Know-how, ihrem Gespür und ihren Softskills entscheidend.

Haug: Egal, wie die Digitalisierung voranschreitet; wenn ein Mensch getroffen wird, ersetzt nichts den menschlichen Kontakt. Auch nicht in 20 Jahren. Den Körper kann ich nicht rebooten oder ein Update aufspielen.

Bleiben am Ball: ­­Allianz Schaden Vorstand Jochen Haug, wie auch Stefan Lauer und Birgit Bals von Rehaare (v. li.). Foto: Sebastian Arlt

Bildquellen

Rehacare: Sebastian Arlt

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